Interview mit Lothar Ditter, der 1993 als diensthabender Justizvollzugsbeamter Zeitzeuge der spektakulären Panzer-Befreiungsaktion im Gefängnis Schwalmstadt-Ziegenhain war.
Herr Ditter, Sie hatten am 4. April 1993 Dienst, als der verurteilte Mörder Lothar Luft mit einem Panzer aus der JVA Schwalmstadt-Ziegenhain befreit wurde. Was ist damals genau passiert?
Ich hatte an diesem Tag, einem Sonntag, Frühdienst an der Außenpforte. Mein Dienst hatte um 6 Uhr begonnen, um 14 Uhr hätte er enden sollen. Das war ein sehr ruhiger Sonntag, ein wunderschöner Tag mit viel Sonnenschein, also freute ich mich auf den nahenden Dienstschluss. Damals war das so, dass man an der Außenpforte allein Dienst hatte. Mein Kollege, der mich zum Spätdienst ablösen sollte, fuhr gegen 13:20 Uhr mit seinem Pkw an der Außenpforte vorbei, und so gab es für mich Aussicht darauf, sogar noch etwas früher nach Hause zu kommen. Meine Vorfreude war allerdings schnell dahin, denn kurz nachdem der Kollege vorbeigefahren war, erreichte mich der Funkspruch: „Alarm, Alarm! Panzer versucht, in Anstalt einzubrechen!“ Mein erster Gedanke war „Stopp, das kann nicht sein!“, und mein Blick richtete sich auf meine Uhr, um mich vom Datum zu überzeugen. Doch wir hatten den 4. und nicht den 1. April.
Was ging Ihnen da durch den Kopf? Hatten Sie keine Angst?
Eine gewisse Angst ist immer vorhanden, das ist klar. In jener Zeit besonders, denn wenige Tage zuvor war der Neubau der JVA Weiterstadt teilweise in die Luft gesprengt worden, und man ging von einem terroristischen Anschlag aus. So hatten wir den Hintergedanken: Jetzt wird’s ja hoffentlich nicht bei uns weitergehen. So war ich im ersten Moment unheimlich geschockt, denn schon Sekunden nach dem Funkspruch hörte ich einen unheimlichen Schlag. Der Panzer war da bereits in ein Nebentor eingefahren. Es war so laut, dass ich dachte, jetzt knallt mir der Panzer gleich an der Außenpforte in das Haupttor rein. Dann kam der nächste Funkspruch: „Alarm, Alarm, Panzer befindet sich in der Anstalt!“ Immer wieder hörte ich zudem diese lauten Schläge.
Wie war der Panzer in die Anstalt gekommen?
Der Panzer hatte zunächst eine recht gerade Strecke zu fahren und ist mit viel Schwung in das erste Tor eingefahren, ein Stahltor, worauf nach 20, 25 Metern das nächste Tor kam, ein Gittertor, das er einfach durchbrochen hat. Dann musste er rechts um die Ecke fahren, die er zu steil genommen hat und hängengeblieben ist. Daraufhin ist er etwa 20, 25 Meter zurückgefahren und hat wieder Schwung geholt, um das nächste Tor zu durchbrechen. Dort gelangt er in einen ersten Innenhof, wo zu diesem Zeitpunkt aber niemand war. Dann musste er nur noch ein Tor zerstören, und er war in dem Innenhof, in dem die Gefangenen gerade ihre Freistunde verbrachten. Dort hat er die Klappe aufgemacht, und der dreifache Mörder Lothar Luft ist hineingesprungen. Klappe zu – und dann ist er wieder zurückgefahren.
Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Wie reagierten Sie in dieser Krisensituation, als klar war: Der Panzer ist drin?
Man muss in einer solchen Situation einen kühlen Kopf behalten. Ich musste zwar schnell handeln, aber auch erst realisieren: Wo ist jetzt was passiert? Was ist der nächste Schritt? In dem Moment, in dem der Alarm ausgelöst worden war, war für mich klar, ich muss die Waffenkammer aufmachen. Wir wussten ja nicht, was noch alles auf uns zukommt. Kurz nachdem ich die Waffenkammer aufgemacht hatte, kam mein Kollege zur Ablösung herein. Er hatte noch nichts mitbekommen. Als ich ihm vom Panzer und der Gefahrensituation berichtete, fragte er mich: „Willst du mich jetzt verarschen?“ Ich entgegnete ihm: „Doch, es ist so, es ist ein Panzer in der Anstalt, wir müssen jetzt handeln.“
Was war dann die dringendste Maßnahme?
Das war die Umsetzung eines Notfallplans: Wir sahen zu, dass keiner mehr in die Anstalt reinkommt oder sie verlassen kann. Wir mussten zu diesem Zeitpunkt ja davon ausgehen, dass es sich um einen terroristischen Anschlag handelte, und daher war es wichtig, dass die Gefangenen, die sich wie Lothar Luft gerade während ihrer Freistunde im Innenhof befanden, in Sicherheit gebracht werden. Während der Panzer also die Tore durchbrach, haben die Kollegen, die im Innenhof Dienst hatten, schnell die Türen aufgemacht und die Gefangenen wieder ins Haus reingeholt. Ohne Wenn und Aber sind die Gefangenen wieder in den Unterkunftsbereich gegangen – bis auf den einen – Lothar Luft –, der hat sich in einer Ecke versteckt, um schließlich im Panzer zu verschwinden. Das Ganze hat zusammengerechnet vier, fünf Minuten gedauert, und dann war der Panzer wieder draußen. Währenddessen kamen die Kollegen, die in Alarmbereitschaft versetzt worden waren, angerannt, um die Waffen abzuholen.
Waren die dann noch nötig?
Wir brauchten sie, schon allein um die Tore abzusichern. Es war ja jetzt eigentlich alles offen. Wenn sich noch andere Gefangene versteckt hätten, hätten sie einfach aus der Anstalt rauslaufen können.
Dass man mit einem derartigen Fahrzeug einfach ein paar Tore über den Haufen fahren kann, lag damals offenbar außerhalb der Vorstellungskraft der Sicherheitsbehörden?
Die JVA war damals durch ein zweiflügliges Stahltor und mehrere schwere, große Gittertore gesichert. Man ging davon aus, so was kann nicht durchbrochen werden. Mit dem Panzer hatte der Fluchthelfer nun mal außergewöhnliche Möglichkeiten, damit kann man leider ziemlich viel niederrollen.
Wer war dieser Panzerfahrer und welche Verbindung gab es mit Lothar Luft?
Die Verbindung bestand aus der JVA Butzbach, wo beide eingesessen hatten, und dort hatte sich zwischen beiden eine Art Vater-Sohn-Verhältnis entwickelt. Nachdem der spätere Panzerfahrer, er war der Jüngere von beiden, dann entlassen worden und Herr Luft nach Schwalmstadt gekommen war, schrieben sie sich, und der Jüngere kam in die JVA Schwalmstadt, um Luft zu besuchen. So entwickelten die beiden den Flucht- bzw. Befreiungsplan. Das heißt, der spätere Fluchthelfer kannte die Strecke, die er gefahren ist, vorher eigentlich nicht. Nur aufgrund einer Zeichnung, die ihm Lothar Luft angefertigt hatte, wusste er, welche Strecke er fahren musste.
Welche Rolle spielte Luft innerhalb der JVA und unter den Mitgefangenen?
Er war unter den Häftlingen durchaus angesehen und kaum aus der Ruhe zu bringen. Beschäftigt war er in der Großküche, wo er vorbildlich gearbeitet hat. Er hatte dort einen Vertrauensjob, den er allerdings auch einmal ausgenutzt hatte. So wollte er mal auf einen Lieferwagen aufspringen und mit diesem rausfahren. Kurz bevor er die JVA verließ, konnte man ihn noch festsetzen, aber da zeigte sich schon, dass er den Drang nach draußen hatte. Er wusste, er hat lebenslänglich mit anschließender Sicherheitsverwahrung, er wäre ja nie wieder rausgekommen.
Wie kam Lothar Lufts Befreier, Hans-Joachim H., überhaupt an den Panzer?
Er hatte sich am Vortag durch einen Zaun Zutritt zur Kaserne in Stadtallendorf verschafft. Dort suchte er sich einen Fuchspanzer aus, und es gelang ihm, in einen einzudringen. Er verbrachte darin dann die Nacht und machte sich mit der Technik vertraut. Am Sonntagmorgen ist er dann durch den Zaun der Kaserne mit dem Panzer abgehauen und damit nach Schwalmstadt gefahren. Gegen 13 Uhr stand er in einer engen Seitenstraße neben einer Pizzeria. Ein Kollege von mir, der zu diesem Zeitpunkt frei hatte, ging dort zu diesem Zeitpunkt spazieren und entdeckte den Panzer. Er erkannte, dass das Fahrzeug aus seiner früheren Einheit stammte, und sagte zu seiner Frau: „Die machen bestimmt ein Manöver!“ Tja, und kurze Zeit später war es dann passiert.
Was geschah unmittelbar nach der Flucht?
Der Panzer ist in Richtung Süden aus Schwalmstadt-Ziegenhain rausgefahren. Dort gibt es einen Gutshof, an dem er auf einen Feldweg abgebogen ist, um dann über Feld und Wiese zu fahren. Angeblich, so hieß es, sei ein Streifenwagen dahinter gewesen, hätte ihn aber nicht mehr erreicht. Dieser Radpanzer, der Fuchs, fährt auf der Straße etwa 105 km/h schnell, auf dem Gelände wohl immer noch 80/90. Die Täter sind dann querfeldein gefahren. Später fand man das Panzerfahrzeug in einem Waldstück bei Homberg (Ohm) in der Nähe der A5. Wahrscheinlich hatte dort ein Fluchtfahrzeug gestanden. Währenddessen kamen natürlich Polizei und Staatsanwaltschaft in die JVA, wo der Vorfall untersucht wurde. Es mussten auch die Tore wiederhergestellt und bis dahin rund um die Uhr bewacht werden. Nach Lothar Luft und seinem Fluchthelfer wurde gefahndet.
Wann wurden sie dingfest gemacht?
Der Panzerfahrer konnte kurze Zeit später verhaftet werden und ist wieder in die JVA Butzbach gekommen. Herr Luft wurde erst nach etwa einem Vierteljahr im Elsass festgenommen. Eine Frau begegnete Luft in einem Waldstück und erkannte ihn von einem Fahndungsfoto. Sie rief die Polizei. So kam es zur Festnahme.
Welche Schlüsse wurden in der JVA aus dem Vorfall gezogen? Kam man etwa zu der Erkenntnis, dass das Gefängnis unzureichend gesichert gewesen war?
Damals wie heute bin ich der Meinung, dass die Sicherheitsvorkehrungen der JVA eigentlich ausreichend waren, immerhin zählt die JVA Schwalmstadt zu den sichersten Anstalten in ganz Deutschland. Die Tore, die es dort gab, brachten eine Absicherung mit sich, die eigentlich optimal ist. Eigentlich – denn es hätte nie jemand gedacht, dass mal ein Panzer Kurs auf die JVA nimmt. Gut, man ist eines Besseren belehrt worden. Daher wurden auf der Zufahrt anschließend sofort Panzersperren gebaut. Ich bin überzeugt davon, dass da auf diesem Wege jetzt kein Panzer mehr reinkommt.
Sie waren 32 Jahre im Dienst. Wurden Sie mit ähnlich spektakulären Fällen konfrontiert?
Das war schon eine außergewöhnliche Sache und die mit Abstand schwierigste Situation. Das bleibt immer in Erinnerung. Generell gilt ja für meinen Beruf: Man arbeitet mit Menschen, und die, die in der JVA untergebracht sind, sind nicht einfach. Daher kam es immer wieder zu Herausforderungen. Es gab hin und wieder mal einen Angriff auf Bedienstete oder Fluchtvorbereitungen, die dann vereitelt wurden.
Sie erwähnten schon Lothar Lufts früheren Fluchtversuch, der aber vereitelt werden konnte. Welche Versuche gab es noch?
Ein Sicherungsverwahrter (übrigens Lothar Lufts Fluchthelfer, der frühere Panzerfahrer) arbeitete in einem Betrieb innerhalb der JVA, in dem Ersatzteile für Automaten hergestellt wurden. Dort wollte er mit einem Gabelstapler und manipulierten Europaletten aus der Halle rausfahren und an der Außenmauer vom Gabelstapler über die Mauer klettern. Das hätte ihm allerdings ohnehin nicht viel gebracht, weil die Außenmauer noch einmal mit einem Zaun gesichert ist und von Kollegen bewacht wird, die dann auch hätten schießen können. Zudem mussten wir immer aufpassen, nicht mal zu vergessen, ein Tor zu schließen. Dann hätte ein Gefangener entwischen können. Der Drang nach Freiheit ist groß.
Sie haben eine Ausbildung zur waffenlosen Selbstverteidigung. Konnten Sie diese in einem brenzligen Fall einmal einsetzen?
Ja, an einem Samstag hatte ich Spätdienst und war im Neubau der JVA auf einer Station, als ich beobachtete, wie sich zwei Strafgefangene heftig stritten. Dabei zückte einer der beiden eine Flasche, schlug diese kaputt, um mit dieser den anderen Gefangenen zu attackieren. Der lief dann weg, so dass ich mit dem gewaltbereiten Gefangenen allein war. Ich habe dann gerufen: „Stopp! Sofort stehenbleiben und nicht hinterherlaufen!“ Dann kam er auf mich zu und wollte auf mich einschlagen. Ich habe instinktiv mit Blockabwehr reagiert, so, wie ich es gelernt hatte. Da flog die Flasche gleich weg und der Gefangene lief in seinen Haftraum. Gott sei Dank hing in dem Flur eine Kamera, so dass die Zentrale das gesehen und sofort Alarm ausgelöst hat. Dann kamen die Kollegen. Es wurde ein Disziplinarverfahren gegen den Gefangenen eingeleitet.
Foto (c) picture-alliance / dpa | DB Stock