Was lässt Menschen zu Monster werden? Gibt es eine todbringende Gesetzmäßigkeit? Stephan Harbort, bekanntester Serienmord-Experte Deutschlands, geht diesen Fragen auf den Grund.
Stephan Harbort, Jahrgang 1964, ist Kriminalhauptkommissar und führender Serienmordexperte. Er sprach mit mehr als 50 Serienmördern, entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Gewalttätern und ist Fachberater bei TV-Dokumentationen und Krimi-Serien. Stephan Harbort lebt in Düsseldorf.
Der folgende Auszug stammt aus dem Buch "Das Serienmörder-Prinzip: Was zwingt Menschen zum Bösen?".
„Sobald das Unmenschliche sich manifestiert, wird es Teil des Menschlichen.“
Jean-Paul Sartre, Zum Tode von Albert Camus am 4. Januar 1960
Serienmörder. Dieses Wort schürt Urängste: Hier droht tödliche Gefahr. Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit kennzeichnen diese Täter als vermeintliche Unmenschen, die Unheil über ihre Mitmenschen bringen, Leben auslöschen. Und gerade deshalb rücken sie in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Sie inszenieren ein Drama, an dem nur sie selbst freiwillig teilnehmen. Auch wenn es kaum jemand wahrnimmt, sie kommunizieren mit uns. Aufgeführt wird immer dasselbe Stück: die Verstümmelung der Humanität und ihrer Spielregeln.
Der „Serienkiller“ ist ein Phänomen der Moderne, vor allem aber der modernen Massenmedien. Diese „Bestien“ begegnen uns – wenn wir nur wollen – jeden Tag: morgens in der Zeitung, mittags im Radio, abends in Büchern, im Fernsehen oder im Kino, nachts in unseren Alpträumen. Hannibal Lecter ist überall. Er gilt als Ikone der medialen Serienmörder-Zunft, aber auch als begnadeter Zeremonienmeister der absurden Gewalttätigkeit. Wenn der kultivierte Kannibale sein diabolisches Grinsen aufsetzt, lacht der Tod mit. Die Kunstfigur des charismatischen Antihelden hat Abgründigkeit, Perversion und serielles Morden in unserer Phantasie attraktiv und salonfähig gemacht, sogar ein spezifisches Täterprofil geprägt – von dem nicht wenige Menschen annehmen, es sei der Wirklichkeit entlehnt.
Die Medienmacher haben eine bunte und bizarre Serienmörder-Parallelwelt geschaffen, in der alles möglich erscheint, der Tabubruch erlaubt ist und gewünscht wird, die aber auch suggeriert, authentisch zu sein. Eben „nach einer wahren Begebenheit“. Das buchstäblich Böse bekommt ein markantes Gesicht, eine idealtypische Vita. Das muss so sein, man kennt sich mittlerweile. Und der Bösewicht ist immer interessant. Weil er uns eine Horror-Welt präsentiert, die uns schockiert, die wir nicht betreten dürfen – und die uns gerade deswegen neugierig macht und magisch anzieht. Gewalt und Macht sind nicht mehr nur denkbar, sondern spürbar, erlebbar.
Fernab dessen existieren Serienmörder tatsächlich. Sie leben und morden mitten unter uns. Doch haben sie nur wenig gemein mit ihren Kollegen, die auf der Leinwand ihr Unwesen treiben oder zwischen zwei Buchdeckeln Opfer im Dutzend niedermetzeln. Es sind die Verlierer unserer Gesellschaft, Randfiguren, Nischenmenschen: unscheinbar, unnahbar, nahezu unsichtbar, vor allem aber unberechenbar.
Wenn wieder einmal ein „Ungeheuer“ geschnappt wird, darf abgerechnet werden. Natürlich öffentlich. „Für solche Bestien, für solche Tiere in Menschengestalt, die ihre harmlosen Mitmenschen zerfleischen, müßten noch andere Strafen bestehen als ein schmerzloser Tod. Man könnte sich die Zeit der Folter zurückwünschen, der langsamen Qual, um zu erreichen, daß er ein volles Geständnis ablegt und vielen unglücklichen Eltern die Gewißheit gibt, daß sie ihr Kind nicht wiedersehen werden, weil es seiner Blutgier zum Opfer gefallen ist.“ (Kütemeyer)
Was durch die hannoversche Presse im Sommer 1924 für den „Totmacher“ Fritz Haarmann angedacht wurde, liest man so heute nicht mehr. Die Buchstaben sind jetzt größer und fetter, die Botschaft subtiler, aber sie ist genauso unmissverständlich und endgültig: „Diese Bestie muss weg, und zwar für immer!“ Die Todesstrafe indes wird nur noch am Stammtisch gefordert.
Die Sprache ist heute eine andere, doch die Intention ist dieselbe: Serienmörder sind Verbrecher, die gnadenlos abgeurteilt und mit drakonischen Strafen belegt werden müssen. Für den Einzelnen ist die Verurteilung eines anderen ein Freispruch. In jeder Hinsicht. Denn nur wer schuldig und böse ist, der wird bestraft, und wer nicht bestraft werden kann, der ist unschuldig und gut. In jeder Hinsicht. Somit geraten wir erst gar nicht in die Verlegenheit, nach Ursache und Wirkung zu fragen, nach den Umständen, nach Verantwortlichkeiten. Und wir müssen uns nicht mit dem dunklen Gedanken herumquälen, wer wohl auf die moralische Anklagebank gehört, wer neben dem Täter noch versagt hat. Aber erzieherisches Fehlverhalten und mangelnde Sozialkompetenz werden hierzulande nicht mit Strafe bedroht, wohlweislich, andernfalls würden wir wahrlich selbst zu Serientätern. Also bestrafen wir besser diejenigen, die es verdienen, weil sie nach den Buchstaben des Gesetzes schuldig sind.
Vor Gericht isolieren wir den Täter und reduzieren ihn auf seine individuelle Willensfähigkeit und seine vorwerfbare Schuld. Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung wollen es so. Biographische und soziale Rahmenbedingungen werden als „nicht zur Sache gehörig“ kurzerhand ausgeklammert. Die Verfahrensbeteiligten wollen gar nicht wissen, warum es überhaupt passiert ist, sondern nur ob, wann, wie und wer das gemacht hat. Ende der Geschichte.
Und genau hier möchte ich mit meinem Buch ansetzen. 15 Jahre lang habe ich das Phänomen Serienmord erforscht, Dutzende Täter befragt, unzählige Vernehmungsprotokolle, Gutachten und Gerichtsurteile ausgewertet. Daraus habe ich Erkenntnisse gewonnen und Lehren gezogen, die weiter sehen lassen, die dazu beitragen können, dass es nicht immer wieder und so häufig zu solchen furchtbaren Taten kommt. Dass Warnsignale sichtbar werden.
Dieses Buch wird nicht von einer waghalsigen Theorie getragen, es fußt auf langjährigen Erfahrungen, auf Tatsachen. Nur deshalb darf ich darauf vertrauen, dass das Sieben-Phasen-Modell Serienmörder-Prinzip nicht meine eigenen Erwartungen und Lebens- oder Berufserfahrungen widerspiegelt, sondern die vielfältigen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung dieses Gewaltphänomens, aber auch die Entwicklungsgeschichte der Täter authentisch und zutreffend beschreibt.
Wir rücken diesen Tätern mit immer ausgefeilteren Ermittlungsmethoden zu Leibe, wir entwickeln gewagte „Psychopathen-Checklisten“ (Hare) oder „Serienmörder-Schnelltests“ (Gray), um sie frühzeitig aus der grauen Masse der Menschen herauszufiltern. Nur wissen wir immer noch zu wenig von diesen Tätern, um die Erfolgschancen unserer Bemühungen realistisch beurteilen zu können. Wir geben uns zu wenig Mühe. Leider hat die Wissenschaft diese Herausforderung bisher kaum angenommen. Es fehlt an systematischen wie an allgemein verständlichen Darstellungen. Es genügt eben nicht, Verbrecher nur als solche zu etikettieren und lebendig zu begraben, wenn sie straffällig werden und ihnen dann im Gefängnis ein paar Fragen zu stellen, von denen die meisten Täter gar nicht wissen, wie sie zutreffend beantwortet werden sollen.
Wir werfen den Tätern gerne Unmenschlichkeit vor. Darüber darf man durchaus geteilter Meinung sein. Aber ist das Unmenschliche nicht auch darin zu sehen, den anderen nicht als Menschen gelten zu lassen, insbesondere bevor er zum Täter wird?
Die Tür zu einer vorurteilsfreien Aufklärung muss endlich aufgestoßen werden. Auch hierzu soll dieses Buch einen Beitrag leisten. Eine ernst gemeinte Auseinandersetzung mit den Tätern verlangt schon das Mitgefühl mit den Familien der getöteten Kinder, Frauen und Männer. Wir alle schulden ihnen, dass nichts unversucht bleibt, um Einsichten zu gewinnen, mit denen wir die Gefahr solcher verhängnisvollen Entwicklungen verringern, vielleicht sogar verhindern können.
Deshalb bin ich in erster Linie daran interessiert, aufzuklären. Nur wer versteht, kann etwas verändern. Und es besteht eine nicht nur theoretische Möglichkeit, dass uns der anfangs unheimliche und unsympathische Täter irgendwann näher kommt, wir ein Gefühl für seine Lebenssituation entwickeln. Ich möchte keine Klischees bedienen oder Vorurteile pflegen, ich möchte die Täter aber auch nicht in Schutz nehmen. Dazu besteht kein Anlass. Ich will mit diesem Buch vielmehr aufzeigen, wie Serienmörder wirklich sind, was sie antreibt, warum sie das tun, von dem viele Täter glauben, es tun zu müssen. Ich will einen Weg bereiten, auf dem man sich begegnen und kennen lernen kann. Denn hinter jedem „Monster“ steht auch ein Mensch. Und höchstwahrscheinlich wird der oder die eine oder andere unter uns am Ende dieses Buches zu der irritierenden Schlussfolgerung gelangen: Der oder die könnte ich selber sein.